Positionspapier zur Legislaturperiode des 20. Bundestags

Freie Arbeit schafft Veränderung. Freie Arbeit braucht Rahmenbedingungen. In der Kultur & in der Gesellschaft – unsere Positionen & Forderungen zu Koalitionsverhandlungen und Legislaturperiode des 20. Bundestags.

Freie Ensembles und Orchester: Innovationsmotor der Kunstmusik, dynamische Organisationen und Knotenpunkte einer lebendigen Kulturszene

Freie Ensembles und Orchester sind kreative Knotenpunkte in unserer Kulturlandschaft. Sie agieren nicht nur als Interpreten, sondern gleichzeitig als Veranstalter, Auftraggeber, Arbeitgeber und Vermittler. Dadurch bieten sie Beschäftigungsmöglichkeiten nicht nur für ihre eigenen Mitglieder, sondern auch für zahlreiche andere Künstler:innen und Kulturschaffende aus verschiedenen Branchen, Sparten und Gewerken.

Freie Ensembles und Orchester existieren in allen Größen und Besetzungen, von Duos über kammermusikalische Formationen und Vokalensembles bis hin zu großen Orchestern und Chören. Seit über vier Jahrzehnten prägen sie in privatwirtschaftlichen Strukturen die Kulturlandschaft in Deutschland und im internationalen Raum. Als Innovationsmotor der Kunstmusik sind sie in der Alten, der zeitgenössischen Musik und im kammerorchestralen Bereich federführend. Ihre Arbeit ist durch eine enge Bindung an das Publikum, die Reflexion gesellschaftlicher Entwicklungen und eine Verankerung ihrer Angebote in einer sich verändernden Gesellschaft geprägt. Freie Klangkörper entdecken neue Konzertformate, arbeiten an Paradigmenwechseln und treiben die Entwicklung der Kunstmusik als zeitgenössische und reflektierende Kunstform voran.

Freie Ensembles und Orchester sind unternehmerisch getragene Strukturen mit dynamischen und agilen Organisationsmodellen. In Ihnen verbindet sich selbstständige Arbeit mit auf Langfristigkeit und Nachhaltigkeit angelegten Strukturen. Die Mitglieder eines freien Klangkörpers sind selbstständige Musiker:innen, die als Shareholder die strategische und künstlerische Ausrichtung mitgestalten. Damit sind sie Zukunftsmodell und Gegenentwurf zur Arbeitsweise der tariflich organisierten und öffentlich getragenen Konzert- und Theaterorchester, die ihre Künstler:innen abhängig beschäftigen. So eröffnen sie Räume für die unmittelbare Verwirklichung neuer künstlerischer Impulse und für kommende Generationen alternative und individuelle Erwerbsmöglichkeiten.

Kulturpolitik, Förderpolitik und rechtliche Rahmenbedingungen orientieren sich jedoch an Organisationsmodellen, Berufsbildern und Bedarfen, welche die Realität und Vielfalt von freier Produktion und selbstständiger Arbeit in der Kulturbranche kaum abbilden.

Es liegt deshalb in der Verantwortung des Bundes, die rechtlichen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie der etablierten, erfolgreichen und unverzichtbaren Arbeitspraxis der freien Organisationen in der Kulturbranche gerecht werden – und ihre Potentiale für Transformation, Qualität und gesellschaftliche Relevanz durch neue Förderimpulse zu stärken.

A In Zeiten der Transformation wichtiger denn je – Stärkung freier Organisationen der Kulturbranche durch neue Förderimpulse

1 Strukturen stärken

Die Arbeit der freien Ensembles und Orchester in Deutschland ist auf Langfristigkeit ausgelegt. Freie Strukturen sind nicht gleichbedeutend mit „losen“ Strukturen. Vielmehr sind künstlerische Arbeit, Mitgliedschaften, Managementstrukturen und gesellschaftliche Resonanz auf Langfristigkeit ausgelegt. Die Finanzierung der diese Arbeit tragenden Strukturen ausschließlich aus seriellen Projektförderungen – nach wie vor für die meisten freien Klangkörper einzige Option – beschränkt künstlerische und gesellschaftliche Potentiale und gefährdet die Absicherung der handelnden Künstler:innen. Es bedarf eines klaren Bekenntnisses auch des Bundes zu einer Erweiterung der Fördermodelle, die auch zeitlich begrenzte Förderungen der Strukturen in den Blick nimmt.

2 Die Pandemie wirkt nach - Impulse aus Neustart Kultur verstetigen

Freie Ensembles und Orchester arbeiten mit einem hohen Eigenfinanzierungsanteil und decken in der Regel 50% und mehr ihres Budgets mit Einnahmen aus Gagen und Ticketverkäufen. Im gegenwärtigen Neustart der Kultur nach der Pandemie sind eben in diesen Bereichen noch auf Jahre Mindereinahmen zu erwarten, die die Zukunft der freien Klangkörper in Frage stellen.

FREO e.V. fordert die Fortsetzung und Verstetigung des Förderprogramms für „Freie Musikensembles“ aus Neustart Kultur II über die nächsten vier Jahre, um die bedrohlichen Nachwirkungen der Corona-Krise für die freien Ensembles und Orchester abzufedern.

B Sozialversicherung & Honorarstandards

Selbstständige Künstler:innen sind Unternehmer:innen in der Kultur- und Kreativwirtschaft. Dabei agieren sie nicht nur als Solo-Selbstständige sondern im Kontext von freien Klangkörpern oder auch freien Gruppen der darstellenden Künste als Träger von Kulturorganisationen. Das Berufsbild der selbstständigen Künstler:innen ist für die deutsche Kulturlandschaft ein gleichermaßen notwendiges, wie von den Kulturschaffenden zumeist bewusst selbstgewähltes Berufsbild.

Notwendig, da von diesen Künstler:innen eine besondere Innovationskraft ausgeht. So zum Beispiel von den von selbständigen Musiker:innen getragenen freien Ensembles und Orchestern, welche die wesentlichen Erneuerungen im Bereich der Kunstmusik der letzten 50 Jahre vorangetrieben haben, etwa in der Entwicklung der Neuen Musik und der historischen Aufführungspraxis.

Bewusst selbstgewählt: Soloselbstständigkeit, kurze Arbeitsverträge, und hybride Beschäftigung sind in Kunst und Kreativwirtschaft an der Tagesordnung. Viele Künstler:innen brauchen die Selbstständigkeit im Haupterwerb für ihre künstlerische Arbeit. Sie entscheiden sich nicht mangels fehlender Stellen für diesen Weg, sondern weil sie ihre Ideen nur frei von Abhängigkeiten und institutionell vorgezeigten Formen und Wegen verwirklichen können.

1 Soziale Sicherungssysteme an die Realität selbstständiger Arbeit anpassen

Das soziale Sicherungssystem in Deutschland ist geprägt vom Konzept des sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnis. Die Arbeitslosenversicherung beispielsweise greift eigentlich nur dann, wenn es zu einer vollständigen Geschäftsaufgabe kommt und sich die betroffene Person arbeitssuchend meldet. Dieses Modell lässt sich auf den Bereich der Selbstständigkeit nur schwer übertragen. Gleichzeitig orientieren sich z.B. die Beiträge zur freiwilligen gesetzlichen Krankenversicherung nicht am realen Einkommen. Darin wird eine grundlegende Problematik sichtbar: Es herrscht ein veraltetes bzw. nicht auf alle Bereiche passendes Bild von Selbstständigkeit vor. Ein Bild, in dem davon ausgegangen wird, dass Selbstständigkeit auf eine ökonomisch überdurchschnittlich abgesicherte Existenz hinweist, auf Firmen- und Immobilienbesitz und eine Rolle als Arbeitgeber. Selbständige Arbeit als längst verbreitete Alternative zu einer Erwerbstätigkeit im Anstellungsverhältnis wird von diesem Bild nicht erfasst – und in der Folge auch nicht in der Gestaltung der soziale Sicherungssysteme abgebildet.

FREO e.V. fordert eine Reform der sozialen Sicherungssysteme mit Blick auf selbstständige Tätigkeit, insbesondere in der Kunst- und Kulturbranche. Die Künstlersozialversicherung muss durch eine Erhöhung des Bundeszuschusses stabilisiert und nachhaltig gestärkt werden. Weiterhin gilt es, das Beratungsangebot der KSK auszubauen und Auskünfte rechtsicher zu gestalten. Für all diejenigen, die sich nicht über die KSK versichern können, müssen die sozialen Sicherungssysteme die Arbeitsrealität widerspiegeln: Versicherungsbeiträge sind grundsätzlich am realen Einkommen zu orientieren. Gleichzeitig muss geprüft werden, inwieweit Selbstständige bei Fällen von Einkommenslosigkeit besser abgesichert werden können.

2 Angemessene Bezahlung - Honorarstandards für selbstständige Kunst- und Kulturschaffende

Die Einkommenssituation von selbstständigen Kunst- und Kulturschaffenden bewegt sich seit Jahrzehnten in einem prekären Bereich. Das jährliche Durchschnittseinkommen der in der KSK-Versicherten (alle Bereiche, alle Geschlechter, alle Altersgruppen) lag laut KSK-Statistik zum 01.01.2021 bei 16.737 Euro. In öffentlichen Förderprogrammen sind Honorarmindeststandards noch immer nicht flächendeckend verpflichtend.

FREO e.V. fordert, Mindesthonorarstandards für selbstständige Kunst- und Kulturschaffende festzusetzen. Die Honorarstandards müssen in Zusammenarbeit mit den Kulturverbänden der frei arbeitenden Szenen entwickelt und an die Arbeitsrealität selbstständiger Kunst- und Kulturschaffender angepasst werden, die ihre Erwerbstätigkeit ausschließlich in der Selbstständigkeit verfolgen. Hierbei ist u.a. die Finanzierung von Urlaubs- und Krankentagen, Akquise- und Organisationsaufwand, Ausfallrisiken, Beiträgen zur Alterssicherung und Versicherungen zu berücksichtigen. Öffentliche Förderprogramme müssen entsprechend ausgestattet werden und an die Verpflichtung zu diesen Standards gebunden werden.

C Stärkung freier Klangkörper und selbstständiger Kunst- und Kulturschaffender durch rechtliche Rahmenbedingungen und Rechtssicherheit

1 Rücklagenbildung im Zuwendungs- und Gesellschaftsrecht

Die Corona-Pandemie hat wie nie zuvor die Krisenanfälligkeit der Kunst- und Kulturbranche offengelegt. Dass die Pandemie innerhalb kürzester Zeit zu existenzieller Not in einer gesamten Branche geführt hat, liegt vor allem auch an dem Fehlen von Rücklagen. Freie Klangkörper und andere Akteure in der Kulturbranche können aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen im Zuwendungs- und Gesellschaftsrecht so gut wie keine Rücklagen bilden. Gleichzeitig werden dadurch unternehmerische Impulse erschwert und langfristige Entwicklungspotentiale beschränkt.

FREO e.V. fordert eine Reform des Zuwendungs- und Gesellschaftsrecht, damit Rücklagenbildung im Sinne einer Vorsorge für Krisenzeiten möglich wird und unternehmerischen Entwicklungspotentialen mehr Raum gegeben wird. 

2 Internationales Steuerrecht: Artikel 17 OECD Musterabkommen

Der internationale Tourneemarkt und Kulturaustausch ist für freie Klangkörper, Künstler:innen und Kulturorganisationen aller Sparten eine wichtige Säule der künstlerischen Arbeit. Im Gegensatz zu anderen Selbstständigen und Freiberuflern sehen sich selbstständige Künstler:innen und freie Kulturorganisationen im Ausland aber mit besonderen steuerlichen Herausforderungen konfrontiert. Denn Art. 17 des OECD Musterabkommen weist das Besteuerungsrecht für selbstständige Künstler:innen und freie Kulturorganisationen dem Auftrittsland zu – sofern die Tätigkeit nicht überwiegend oder ganz aus öffentlichen Mitteln des Ansässigkeitsstaates direkt finanziert oder subventioniert wird.

Während Selbstständige anderer Branchen ihre weltweiten Einkünfte einfach dem Wohnsitzfinanzamt melden, ist bei freien Klangkörpern und selbstständigen Künstler:innen vom Veranstalter grundsätzlich zunächst eine Quellensteuer einzubehalten und abzuführen. Diese Besteuerung an der Quelle führt zu vielfältigen Herausforderungen. Es fällt ein erheblicher zusätzlicher bürokratischer Aufwand an, damit die Steuer im Auftrittsland ordnungsgemäß abgeführt und in den Steuererklärungen der Künstler*innen in den Heimatländern korrekt berücksichtigt werden kann. Eine Doppelbesteuerung lässt sich aufgrund der vielerorts unterschiedlichen Regelungen und zusätzlich unterschiedlichen Handhabungen dennoch nicht immer vermeiden. Insbesondere für Personengesellschaften (z.B. GbR), in denen freie Ensembles und Orchester und Gruppen anderer Sparten häufig organisiert sind, ist der Aufwand hierfür unverhältnismäßig.

Artikel 17 des OECD-Musterabkommen, der „Künstlerparagraph“ ist nicht mehr zeitgemäß und eine Ungleichbehandlung gegenüber anderen Selbstständigen sowie Kultureinrichtungen in öffentlicher Trägerschaft.

FREO e.V. fordert eine Überarbeitung der internationalen Steuerabkommen mit dem Ziel, die Besteuerung von Kulturorganisationen wie den freien Klangkörpern und selbstständigen Künstler:innen bei Engagements im Ausland an die Besteuerung anderer Selbstständiger anzupassen und dadurch gerecht und praxisnah zu gestalten.